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Warum es eine gute Idee sein kann, Freiwillige ohne Erfahrung Englisch unterrichten zu lassen

Junge Freiwillige unterstützen Schulen in Entwicklungsländernvon Frank Seidel, Gründer der Online-Portale Wegweiser Freiwilligenarbeit und Guidisto

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Ich bin ein entschiedener Verteidiger junger Menschen, die Freiwilligenarbeit im Ausland machen wollen, selbst wenn sie keine besondere Ausbildung oder relevante Berufserfahrung haben. Vor allem weil ich denke, dass ehrenamtliches Engagement im Ausland eine hervorragende Gelegenheit für entwicklungspolitisches und interkulturelles Lernen ist, die der Gesellschaft auf lange Sicht Vorteile bringt. Aber auch weil ich viele Schüler*innen, Abiturient*innen oder Studierende erlebt habe, die in einem Freiwilligenprojekt tolle und wertvolle Arbeit geleistet haben. Nicht zuletzt sind die tausende Aufnahme-Projekte in Afrika, Asien oder Lateinamerika stets auf der Suche nach motivierten Freiwilligen.

Andererseits meinen viele Kritiker*innen, dass sich nur Menschen mit beruflichen oder fachspezifischen Qualifikationen als Freiwillige im Ausland engagieren sollten.

Dieses Urteil basiert zum Großteil auf dem Argument: „Das würden wir hier auch nicht machen. Man stelle sich vor, eine kambodschanische Abiturientin ohne Unterrichts-Erfahrung würde in eine Schule in Deutschland (oder in Österreich, der Schweiz, etc.) kommen und den Kindern Englischunterricht geben. Das wäre hier selbstverständlich nicht erlaubt und sollte deshalb auch umgekehrt nicht möglich sein.“

Heute bin ich auf eine Anzeige gestoßen, die verdeutlicht, warum dieser Vergleich gewaltig hinkt.

In diesem Artikel erkläre ich, warum meiner Meinung nach selbst unerfahrene Freiwillige zum Englisch-Unterricht in Entwicklungsländern beitragen können, und warum es auch allgemein eine gute Idee sein kann, dass Freiwillige im Ausland Aufgaben verrichten, mit denen sie in ihrem Heimatland nicht betraut würden.

Du willst jemandem helfen? Sei still und hör zu!

Wenn Sie Verfechter*in des „Das-würden-wir-hier-auch-nicht-machen“-Arguments sind, was würden Sie sagen, wenn Sie in Ihrem Heimatland auf diese Anzeige stoßen würden?

Weiterbildung für Englischlehrer*innen in Kambodscha

Sie haben richtig gelesen: diese Anzeige ermutigt Personen, die bereits als Englischlehrer*innen in Kambodscha arbeiten, an Sprachkursen teilzunehmen, um ihr eigenes Englisch zu verbessern! (Mehr Informationen über die Gründe dafür weiter unten.)

Wie ist das möglich, fragen Sie? Sind etwa nicht alle kambodschanischen Englischlehrer*innen gut ausgebildete Fachkräfte, so wie die Fremdsprachen-Lehrer*innen in meinem Heimatland?

Überraschung! Das Bildungssystem in Kambodscha (oder in Ghana oder Peru) ist nicht das gleiche wie in Deutschland (oder in Österreich oder der Schweiz) und die Probleme und mögliche Lösungen sind von Land zu Land unterschiedlich.

Dabei scheint es offensichtlich, dass sich eine angemessene Strategie in Europa oder anderen reichen Ländern nicht einfach auf Kambodscha übertragen lässt. Oder umgekehrt, dass etwas, das in Kambodscha zu positiven Ergebnissen führt, in Ländern des globalen Nordens unangebracht sein könnte.

Trotzdem sind von Experten und Expertinnen aus den westlichen Ländern geplante Entwicklungsprojekte wieder und wieder gescheitert, weil sie die Erfolgsrezepte des globalen Nordens auf Entwicklungsländer anwenden wollten. Eine sehr unterhaltsame Einführung in diese Problematik bieten die ersten Minuten des Ted Talks „Want to help somebody? Shut up and listen!“

Aus dem gleichen Grund ist es unangemessen, bei der Beurteilung der Aufgaben, die Freiwillige im Ausland übernehmen, dieselben Maßstäbe anzulegen, wie bei vergleichbaren Aufgaben in ihrem Heimatland. Die verantwortlichen Personen für die Projekte vor Ort sollten ihre eigenen Entscheidungen treffen können.

Englisch unterrichten ohne Englisch zu sprechen

Das Projekt Angkor Tree, das hinter der obigen Anzeige für eine bessere Ausbildung von Lehrkräften steht, unterstützt ein Bildungsprojekt in einem der ärmsten Vororte von Siem Reap in Kambodscha. Auf ihrer Website (Anmerkung des Verfassers: „Angkor Tree“ heißt mittlerweile TDSO und der Aufbau der Website hat sich geändert. Der Link führt zu einer Version, die 2018 von der NGO „Internet Archive“ archiviert wurde.) werden viele Details genannt über die Gründe, weshalb Englischkurse für Englischlehrer*innen in Kambodscha sinnvoll sind:

  • Zu den zahlreichen Problemen, mit denen das kambodschanische Bildungssystem kämpft, gehören u. a.: Mangel an Lehrkräften, schlechte fachliche Leistungen der Lehrkräfte und fehlende Unterrichts-Kompetenz.
  • Weniger als ein Viertel der Lehrkräfte in den Grundschulen verfügt über einen Schulabschluss auf Abitur-Niveau, während ungefähr ein Drittel nicht einmal einen Realschulabschluss (nach Vollenden der 10. Klasse) hat.
  • Die gebräuchlichen Lehrmethoden sind meist veraltet, wie zum Beispiel Übungen, bei denen ein Satz unzählige Male wiederholt wird, um ihn im Gedächtnis zu behalten.
  • Der Betreuungsschlüssel ist sehr hoch: In den Grundschulen kommen auf eine Lehrkraft rund 50 Schüler*innen.
  • Die Abwesenheitsquote der Lehrkräfte: Etwa 15,6% der Lehrkräfte waren am Tag eines unangekündigten Besuches nicht anwesend, und es stehen nur selten Vertretungslehrer*innen zur Verfügung.

Und das Wichtigste für unsere Thematik: „Die meisten Englischlehrer*innen verfügen nicht einmal über ein Minimum an Englischkenntnissen.“

Ich bin davon überzeugt, dass die Lehrkräfte in Kambodscha tagtäglich ihr Bestes geben, obwohl sie nach verbreiteter Meinung stark unterbezahlt sind.

Das ändert nichts daran, dass es sinnlos ist, auf dem Argument zu beharren, dass kambodschanische Kinder nur von qualifizierten, einheimischen Englischlehrern und -lehrerinnen unterrichtet werden sollten, denn es gibt davon bei weitem nicht genug.

Auch in Europa sieht es nicht so rosig aus

Wir sollten ebenfalls aufhören, zu behaupten, dass die Kinder im globalen Norden nur von angemessen ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden.

Eine Freundin von mir z. B. ist Lehrerin in einer französischen Schule für Kinder mit Behinderung, wo von ihr erwartet wird, Englischunterricht zu geben, obwohl sie sofort zugeben würde, die Sprache nicht zu beherrschen.

Im Jahr 2018 besaßen über 60% der neu eingestellten Lehrkräfte in Berlin keine reguläre Lehrerausbildung. Viele von ihnen haben nur einen zweiwöchigen Crashkurs besucht, bevor ihnen eine Klasse zugeteilt wurde.

Auch die deutsche Nachrichten-Satiresendung heute-show räumt mit dem Mythos auf, dass an deutschen Schulen nur gut ausgebildete Lehrkräfte unterrichten. Unter anderem erfährt man von der Existenz von LOVLs (Lehrer Ohne Volle Lehrbefähigung), die das Fach, das sie unterrichten sollen, nicht einmal studiert und in vielen Fällen keinen Hochschulabschluss haben.

Die Situation in Kambodscha ist alles andere als ein Sonderfall in Entwicklungsländern.

Als ich vor einigen Jahren Bildungsprojekte in Peru und Thailand besuchte und die dortigen Englischlehrer*innen traf, waren viele von ihnen nicht in der Lage, ein einfaches Gespräch auf Englisch zu führen. In Ghana (ein englischsprachiges Land) war es nicht möglich, sich mit den Französischlehrern und -lehrerinnen auf Französisch zu unterhalten.

Die Lehrmethoden, die ich dort beobachtet habe, bestanden oft aus dem Auswendiglernen von Sätzen und deren Wiederholung gemeinsam mit der ganzen Klasse. Es ist folglich auch keine Überraschung, dass die Sprachkenntnisse der Schüler*innen die ihrer Lehrer*innen meist nicht überstiegen.

Freiwillige unterstützen Lehrkräfte in Schulen in Entwicklungsländern

Die wenigen qualifizierten Lehrkräfte für Fremdsprachen bevorzugen wegen der besseren Gehälter meist Privatschulen, die jedoch nur der reichen Mittel- und Oberschicht des Landes zugänglich sind. Die staatlichen Schulen müssen andere Lösungen finden, um die Qualität des Unterrichts trotz des begrenzten Budgets zu verbessern.

Angesichts solcher Ausgangs-Situationen ist es kaum verwunderlich, wenn einheimische Schulleiter*innen Englisch-Unterricht durch 18-jährige Freiwillige aus westlichen Ländern als eine wertvolle Hilfe betrachten – wenn diese gute Englischkenntnisse haben und modernere Unterrichtsmethoden anwenden können, die sie selbst in ihrer Schullaufbahn erlebt haben.

Niemand behauptet, dass das eine ideale Situation ist, und ich bin sicher, dass die Schulleiter*innen hoch erfreut wären, den Lehrermangel mit ausreichend qualifizierten, einheimischen Lehrkräften ausgleichen zu können. In den meisten Fällen haben sie jedoch keine Wahl.

Es wäre ebenfalls ungerecht, den Schulleiterinnen und Schulleitern, den Freiwilligen oder den Freiwilligen-Organisationen die Schuld für die Unzulänglichkeit des Bildungssystems in einem Land zu geben.

Nicht alle Freiwilligenprojekte lohnen sich gleichermaßen

An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass unerfahrene Freiwillige wertvolle Arbeit leisten können, und nicht, dass dies immer der Fall ist.

Damit ein Freiwilligenprojekt gelingen kann, braucht es unter anderem:

  • auf Seiten der Freiwilligen vor allem Lernbereitschaft und keine Weiße*r Retter*in-Haltung (White Savior)
  • eine angemessene Beaufsichtigung der Freiwilligen und Betreuung durch einheimisches Personal
  • Aufgaben, die den Fähigkeiten der Freiwilligen entsprechen
  • Einbeziehung des Aufnahmeprojekts in die Wahl der Mindestqualifikation und der Aufgaben der Freiwilligen.

Leider erfüllen viele Freiwilligenprojekte nicht diese Kriterien.

Trotzdem gibt es auch ebenso viele Beispiele (besonders hier auf Wegweiser Freiwilligenarbeit), die zeigen, dass sich Freiwillige auch dann erfolgreich in Projekte einbringen können, wenn sie vor allem eine großen Portion Begeisterung und gute Englischkenntnisse im Gepäck haben.

Hilfe von Freiwilligen entlastet die Lehrkräfte vor Ort

Hier finden Sie einige Beispiele für Projekte im Bereich Bildung & Unterricht, in denen sich auch Freiwillige ohne Erfahrung nützlich machen können:

  • außerschulische Sprach-Workshops
  • Unterstützung der Lehrkräfte vor Ort, wodurch den einzelnen Kindern mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden kann (Erinnern Sie sich an den durchschnittlichen Betreuungsschlüssel von 1:50 in einer kambodschanischen Klasse?)

Ich habe sogar Fälle erlebt, in denen Freiwillige ohne Unterrichts-Erfahrung – mit Unterstützung einheimischen Personals – erfolgreich an Lehrerausbildungen mitgewirkt haben.

Gibt es nicht genug qualifizierte Freiwillige?

Das Projekt Angkor Tree hat die Entscheidung getroffen, nur mit Freiwilligen mit angemessener, beruflicher Qualifikation zu arbeiten. Außerdem zielt das Projekt darauf ab, örtliche Lehrkräfte auszubilden, und würde daher nach unserem internen Bewertungssystem zusätzliche Punkte erhalten, da es bei der Ursache des Problems ansetzt: ein Mangel an einheimischen, englischsprachigen Lehrkräften. Das ist ein lobenswerter Ansatz, den ich von ganzem Herzen unterstützen kann.

Gleichzeitig ist es wichtig, weniger ambitionierte Freiwilligenprojekte in anderen Schulen nicht als ungeeignet abzutun. Den Wünschen eines*r einheimischen Schulleiter*in zuzuhören und Freiwillige mit wenig oder keiner Unterrichtserfahrung zu integrieren, gehört mit dazu, wenn man den Verantwortlichen in Entwicklungsländern nicht eine westliche Sichtweise aufzwingen will.

Auch deswegen, weil ein anderer Aspekt in den Diskussionen über Freiwilligenarbeit im Ausland häufig ausgeklammert wird: die Nachfrage nach Freiwilligen im Verhältnis zur Zahl der verfügbaren Freiwilligen, die von einer Entsendeorganisation bereitgestellt werden können.

Über unser Online-Portal haben wir mit Freiwilligen-Organisationen unterschiedlichster Art und Größe zu tun: große wie kleine Organisationen, solche, die offen sind für unerfahrene Freiwillige, und solche, die nur Freiwillige mit Berufserfahrung akzeptieren.

Dabei haben wir immer wieder festgestellt: die Entsendeorganisationen, die sich auf qualifizierte Freiwillige beschränken, vermitteln eine viel geringere Anzahl an Freiwilligen. So viel geringer, dass eine Organisation, die auch Freiwilligen ohne Erfahrung offensteht, in einer Woche mehr Volunteers vermitteln kann als die auf qualifizierte Freiwilligen spezialisierten in einem Jahr.

Natürlich würden sich die Aufnahme-Projekte wünschen, dass alle verfügbaren Posten mit qualifizierten Freiwilligen besetzt wären. In der Realität müssen sie jedoch eine Wahl treffen: Entweder akzeptieren sie einen ständigen Fluss an Freiwilligen mit verschiedenen Profilen (Freiwillige ohne Erfahrung eingeschlossen) oder sie müssen mit einer weitaus geringeren Anzahl qualifizierter Freiwilliger vorliebnehmen.

Manche Schulen entscheiden sich für die Option „viele Freiwillige“, während andere wiederum die Option „wenige qualifizierte Freiwillige“ bevorzugen. Beide Möglichkeiten haben ihre Vor- und Nachteile und sollten als legitime Entscheidungen betrachtet werden.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Schulen in Entwicklungsländern nicht von den Bildungsinstanzen in Europa.

Angesichts des Lehrermangels beschloss 2018 die Schulverwaltung im Bundesland Berlin, die freien Stellen mit Bewerber*innen zu besetzen, die keine reguläre Lehrerausbildung hatten. Während andere deutsche Bundesländer wie Bremen oder Sachsen sich entschlossen, das Ausbildungsniveau der Lehrkräfte nicht zu senken … und Hunderte von Stellen unbesetzt zu lassen, urteilte die Berliner Regierung: „Jede besetzte Stelle ist besser als eine unbesetzte Stelle.“

Fazit

Der Ansatz „Lasst uns das, was in unserem Land funktioniert, auch auf Entwicklungsländer anwenden und so die dortigen Probleme lösen.“ garantiert meist das Scheitern von traditioneller Entwicklungszusammenarbeit.

Das kambodschanische Bildungssystem unterscheidet sich zum Beispiel stark von den Bildungssystemen in Westeuropa. Aus diesem Grund können auch die Wege und Mittel, das Bildungssystem zu verbessern, sehr unterschiedlich sein.

Auch Freiwillige leisten wertvolle Beiträge zu Bildungsprojekten

Den Nutzen von Freiwilligen-Programmen in Afrika, Asien oder Lateinamerika ausschließlich anhand von europäischen Standards zu beurteilen, ist daher keine gute Idee. In vielen Fällen schenkt das „Das-würden-wir-hier-auch-nicht-machen“-Argument der besonderen Situation im jeweiligen Einsatzland nicht ausreichend Beachtung und legt die Anforderungs-Latte so hoch, dass nicht ausreichend Freiwillige gefunden werden, um den Bedarf der Projekte zu decken.

Wenn eine angemessene Einarbeitung und Betreuung vor Ort geboten werden, können auch unerfahrene Freiwillige im Rahmen eines verantwortungsvollen Programms einen wertvollen Beitrag zu einem Bildungsprojekt leisten.

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Frank Seidel

Frank Seidel ist der Gründer von www.wegweiser-freiwilligenarbeit.com, dem unabhängigen Portal für flexible und sinnvolle Freiwilligenarbeit im Ausland. Seit er 1991 selbst ein Praktikum in einem Naturschutzgebiet in Südfrankreich machte, beschäftigt er sich mit freiwilligem Engagement weit ab der Heimat, in der Vergangenheit auch als Autor des Buches "Jobben für Natur und Umwelt" oder als Marketing-Direktor einer weltweit agierenden Freiwilligenorganisation.

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